Meine Jugend- und Lehrjahre

Eberleins Schilderung seiner eigenen Jugend. Unverändert wiedergegeben aus „Michelangelo“, S. 203, GV 1062.

Du wünschest, Maria, daß ich Dir eine Schilderung meiner Jugend- und Lehrjahre geben soll:

Werde ich in meine Erzählung den Duft und poetischen Glanz bannen können, der, wie es mir schien, von jeher über dem Häuschen und der kleinen Stadt lag, in welchen ich bewußt meine Jugend verlebte?

Zeigte ich dir nicht jenes Stück zerbröckelnder Stadtmauer, von der ich tagelang hinüberschaute nach den Bergen, die mir damals so hoch schienen, von denen ich glaubte, daß jenseits das Glück und der Ruhm, meiner wartend, ständen? Du hast mich oft begleitet nach dem stillen Dörfchen, das idyllisch wie ein Hänflingsnest im Busch, zwischen tiefen Wäldern an der Fulda liegt, in das verfallene Bauernhaus, in dem ich geboren.

Alle die einsamen und verborgenen Pfade durch Wald und Wiesen, an den flüsternden Weiden und dem Schilf der Flußufer vorüber, bist du mit mir gewandert.

Wie seltsam märchenhaft lagen nachts im Mondschein die engen, altersgrauen Gassen, durch die wir Hand in Hand streiften, bis hinauf die ehrwürdige Steinbrücke, die sich in kühnem Bogen über den Fluß schwingt.

Gespensterhaft ragte rechts das alte Welfenschloß mit verschnörkelten Giebeln, und links entschwand in die sich übereinander schiebenden Berge das Silberband der Weser.

In dieses weltabgeschiedene Waldtal, in die engste, schmalste, dunkelste Gasse, in das letzte sich altersschwach an die Stadtmauer lehnende Haus, in das niedrigste, ärmste Stübchen stelle einen blassen, schüchternen, nach innen gekehrten Knaben, einen sich in unklarem Sehnen nach Kunst und Schönheit verzehrenden Jüngling, und du hast ungefähr das Bild meiner ersten Jugend.

Unter meinem Vater denke dir einen ergrauten Freiheitskämpfer, einen Brausekopf und Phantasten mit der Physiognomie eines Blücher, voll von Geschichten aus seinem überreichen, abenteuerlichen Leben, voller Schwänke und Anekdoten. In Westfalen als Sohn eines österreichischen Werbeoffiziers geboren, war er mit dreizehn Jahren seinen Eltern davongelaufen und in Kassel unter die Soldaten gegangen.

Als 19jähriger Ehemann hatte er mit seiner Frau, die im Heer als Marketenderin mitzog, den Rhein überschritten und seinen Erstgeborenen auf dem Tornister nach Frankreich getragen. Er war in meiner Jugend, da ich ein Kind zweiter Ehe bin, Steuerbeamter und hatte sich mühsam noch im späten Alter einiges Wissen, wie Lesen und Schreiben, angeeignet.

Doch besaß er unerschütterlichen Humor und viel Lebensweisheit. Bei dem Dorfe Spiekershausen bei Hannöversch-Münden, in welchem ich am 14. Juli 1847 das Licht der Welt erblickt, wurde meinem Vater das schwere Amt eines Grenzwächters auferlegt. Die Nächte mußte er die benachbarten Höhen durchstreifen. In dem dichten Grenzwald schlichen Pascher, gefährliche Schmuggler und Schmugglerinnen.

Unter den letzteren erwischte er auch ein frisches, dralles Bauernmädchen, nahm es in Haft, und unter Lachen und Weinen spielte sich vor dem Schultheißen eine der Schmugglerprozeßszenen ab, wie sie dort an der Kasseler und hannöverschen Grenze des öfteren vorkommen. Das Ende vom Liede war, daß mein Vater, der Witwer geworden, die kleine Bäuerin zu seinem Eheweib machte.

Sie war meine Mutter.

Eine stille, bescheidene und fleißige Frau, deren rote Wangen und liebe blaue Augen unverwischt vor meiner Seele stehen. Sie säete den Hanf, erntete ihn, wob und bleichte und nähte mir daraus meine Kittel, Höschen und Hemden. In solchem von ihrer Hand gefertigten Hemd mit breit umliegenden Kragen, mit malerischem Plaid und schweinsledernem Ranzen und einer überlebensgroßen Mappe voller Entwürfe bewaffnet, bin ich noch als 23jähriger junger Mann in Berlin eingezogen.

Doch davon später.

In meiner Heimat gab es noch keine Eisenbahnen; die Bibel, das Gesangbuch, ein kleiner Kalender, die Sagenbücher vom gehörnten Siegfried, der Genoveva und Till Eulenspiegel bildeten den einzigen Lesestoff der Bauern. An den langen Winterabenden, in den Spinnstuben erlauschte ich manch Abenteuer meines Vaters.

Wie er in den Revolutionsjahren die Bauernwehr formiert und einexerziert, wie sie nächtens, die Empörer erwartend, am Fluß um das Wachtfeuer lagerten. Die steinalten Bäuerlein, in mottenzerfressenen Franzosenuniformen, bewaffnet mit auf dem nahen Schlachtfeld aufgefunden, lustig ein den Schmugglern abgenommenes Fäßchen Rum leerend.

Wie er dreimal desertiert, aus der Festung Kolberg entflohen, von Irrlichtern geneckt im Sumpf stecken geblieben war und vom Feind errettet wurde. Wie er sich, um Frau und Kind zu sehen, aus Paris fortgestohlen und nach Emden durchgebettelt hatte.

Er hatte zweimal den Feldzug nach Frankreich mitgemacht, war unter den fabelhaftesten Umständen aus Rußland entkommen, hatte bei Leipzig und Waterloo mitgekämpft und war oft verwundet worden. Er fabulierte, daß er später als Tambourmajor die Kunst verstanden habe, seinen goldenen Stab, durch das Stadttor marschierend, über die Mauer zu werfen, um ihn außerhalb wieder aufzufangen.

An mein Geburtsdorf besitze ich wenig Erinnerungen.

Einst hing mir ein riesengroßer Krebs an der Angel, so daß ich entsetzt in den Fluß stürzte, aus dem mich mein Vater kaum noch lebend herauszog. Ein Fels lag nicht weit vom Ufer, von dem ich die Gänse und Enten verjagte, um dort dem Gurgeln und Musizieren der Wellen zu horchen. Schwarzgrün badeten sich die Höhen darin, unendlich spiegelte sich das Blau des Himmels, und meine Kinderhände griffen nach den so nahe scheinenden Lämmerwölkchen des Bildes in der Tiefe.

Ueber meine kleine Person hörte ich in späteren Jahren erzählen, daß ich als sechs- bis sieben-jähriger Junge äußerst widerhaarig und von leidenschaftlichstem Ungehorsam gegen jede elterliche Autorität gewesen sei.

Eines Tages nun habe mein Erzeuger, dem die Geduld gerissen, mich beim Kragen genommen und sei mit mir an den Fluß gestürmt, rufend, er wolle mich ersäufen.

Meine Mutter und Schwester, sowie die hoffnungsvolle Dorfjugend samt dort weidenden Kühen, Gänsen und Enten seien vor Entsetzen schreiend, johlend, brüllend und schnatternd gefolgt, und der zornige Vater habe mich tatsächlich mit dem Kopf ins Wasser gesteckt.

Seit diesem Tage sei ich gehorsam und sanft geworden.

Das Leben hat mich seitdem, wenn ich mich übermütig im Rausch der schöpferischen Illusion nahe den Sternen glaubt, noch öfter untergetaucht.

Die Alltäglichkeit, Arm in Arm mit dem Kampf ums Dasein, besorgen dies redlich noch heute.

Ich besaß und besitze eine einzige Schwester, bei der ich stets eine zweite Heimat fand, und deren jugendliches Konterfei neben den Bildern meiner Eltern in Bleistiftzeichnungen einen Ehrenplatz im Eberlein-Museum des Schlosses zu Münden einnimmt.

Wie nach der Schöpfungsgeschichte alles Leben dem Wasser entstiegen ist, so empfing auch ich von den schönen Windungen des Flusses, der sich teilend und Inselchen bildend, über Wehre stürzend, mit seinem Rauschen mich einwiegt, die ersten Anregungen von Form, Farbe und Tönen.

Uns gegenüber lag ein grauer, öder Berg, auf dem kein Baum und Strauch gedieh. Aus des Wassers herbstlichen Nebeln, die sich im engen Flußtal wie der Tatzelwurm hinwälzten, stieg mir der wilde Jäger auf, mit seinem Gefolge über die Höhen hinschnaubend. Oberhalb breitete sich ein weites Schlachtfeld aus den Freiheitskriegen, wo Verbündete und Franzosen um den Besitz des Berges kämpften, man grub beim Pflügen noch Waffen und Skelette aus; Wölfe verirrten sich in strengen Wintern über die Höhen und Wildsauen brachen in Rudeln ein in Aecker und Felder, jeder Bauer war ein Wilderer.

In die Dorfschule, die ich als ABC-Schütze besuchte, mußte jeder Junge selbst das Brennholz morgens früh mitbringen. Im Sommer nahm es die Gestalt von Lebensmitteln an.

Als ich acht Jahre alt war, wurde mein Vater als Steuerbeamter nach Hannöversch-Münden versetzt.

Dies Städtchen zählte damals 5000 Einwohner, liegt am Zusammenfluß von Werra und Fulda und sieht auf eine interessante historische Vergangenheit zurück.

Im Grunde ist es die Residenz des Landes Hannover; hier regierten seine ersten Fürsten und hier liegen ihre mit hervorragenden Denkmalen geschmückten feierlichen Gräber.

Festungswälle, altertümliche Mauern und Türme umgeben die Stadt.

Künstlerisch wertvoll geschmückte Kirchen, ein in vortrefflicher Spätrenaissance gebautes Rathaus und ein ebensolches Schloß zeugen von der reichen Vergangenheit dieses Handel und Schiffahrt treibenden Völkchens.

Münden wurde im 30jährigen Kriege durch Tilly gründlich zerstört und dämmerte in meiner Jugend weltentrückt dahin.

Hier begannen meine kleinen Freuden und großen Leiden.

So innerlich fremd, unverstanden und darum ungeliebt, wie ich als ein durch die Schulen gehetztes, träumerisches Kind den Bewohnern dieser Stadt gegenüberstand, erscheine ich mir dort noch heute.

Einen Teil daran trugen die damals im Argen liegenden Verhältnisse der Schulen.

In der kleinen katholischen Gemeinde, die ihre Kirche in die Schloßrinne gebaut hatte, wurde ich wegen meiner hellen Stimme sehr geschätzt. Früh um 7 Uhr schon mußte ich Messe dienen, und ihre Zeremonien haben sich mir tief eingeprägt.

Viel mußte ich darunter leiden, daß mein Vater mich einmal in die reformierte, dann in die katholische und zuletzt in die protestantische Kirche tat – in letzterer wurde ich konfirmiert.

Durch den unverschuldeten Wechsel dieser auf die unbeschriebene Kindesseele tief wirkenden verschiedenen Religionsanschauungen wurden die Leidenschaften meiner Mitschüler und leider auch die meiner Lehrer gegen mich aufgestachelt.

Uebrigens erwehrte ich mich tapfer meiner lieben Schulgenossen, oft tollkühn im Augenblick des Kampfes, schlug ich mich auf Tod und Leben.

Von selbst haben wir Mündener Jungen nicht das sogenannte dicke Fell; wir wurden gegerbt, aber wir hauten auch wieder.

Dies besorgten wir eifrig, sogar in der Frühstückshalbstunde tobte die Schlacht durch nahe Berge und Schluchten.

Trotzdem wuchsen meiner jungen Seele Flügel, wenn mir die Kunst auch in der ärmstlichsten Gestalt nahe trat.

Ein kleiner Ausschnitt der Ruppiner Bilderbogen, von Kameraden mir geschenkt, bewirkte das Wunder, daß die Schulstube vor dem nicht mehr in der Wirklichkeit atmenden Kinde zum wesenlosen Raum, der Lehrer zum höhnenden Tyrannen wurde, und im Innern eine Fülle phantastischer Gedanken und Gestalten erwachte.

Die Prügelstrafen unserer Realschule waren von einer alle Grenzen übersteigenden Grausamkeit

Jeden Tag hagelten die Hiebe – den Lehrern schien solches zur süßen Gewohnheit geworden –, auf meinen armen Rücken, auf die Hände und Fingerspitzen hernieder.

Ja, du wirst lächeln, Maria, aber es ist tatsächlich wahr, daß ich ein Jahr lang von 4 bis 5 Uhr im Carcer steckte.

Vier wackere Gesellen packten den weltentrückten Grübler, schleiften, pufften und schoben den Wehrlosen unter dem Gejohle der Klasse über den Schulflur, über den Hof zum Cerberus des Carcers, einem harmlosen Schuster.

Dieser öffnete artig das Türchen, und ich flog aus den Fäusten meiner grinsenden Jugendfreunde ins Loch.

Durch das Schultor, dessen sonnige Oeffnung mein Auge im Fluge erhaschte, lockten die grünen Wälder und blühenden Gärten, und durch das kleine vergitterte Fenster sah ein wenig Blau des Himmels.

Vor meinen trüben Augen stand die wartende Mutter und der kalt gewordene Kaffee, denn es gab im Carcer nur eine Belustigung, der ich mich mit Begeisterung hingab, auf dem einbeinigen Schusterschemel Karussel zu fahren.

Aus Angst vor Strafe hatte ich daheim über all dieses geschwiegen.

Gleichwie ein reinigendes Gewitter mit Blitz und Schlag kam aber das Ende der unhaltbaren Zustände. Eines schönen Tages erschien wie ein gereizter Löwe mein Vater vor dem zitternden Schuster, den er mit blanker Waffe zu öffnen zwang.

Verblüfft sahen die Bürger den Erzürnten mit gezogenem Seitengewehr, mich an der Hand führend, über den Markt zum Hause des Lehrers hinstürmen. In Todesangst hatte dieser traurige Held sein Zimmer mit Schränken und Tischen verbarrikadiert, und wir zogen deshalb wie Sieger zum Geistlichen des Ortes, dem die Oberherrschaft der Schulen zustand.

Dieser gütige Mann beruhigte meinen Vater und veranlaßte, daß solchen Mißständen abgeholfen wurde.

In ihm fand ich den ersten Menschen, der Verständnis für mein, den anderen rätselhaftes Wesen hatte, der den im Leben unbeholfenen Knaben schützte, ihn belehrte und Berater seiner jungen Leiden wurde. Ihm sage ich hiermit Dank über das Grab hinaus.

Endlich kam die Konfirmation. Mein lebenskluger, verständnisvoller Vater hatte längst begriffen, daß in mir etwas gärte und zum Ausdruck drängte, das keine Nahrung in dieser weltabgeschiedenen Stadt finden konnte.

Er hatte mit liebevollem Blick wohl gesehen, daß, vom ersten klaren Denken an, in mir der ungestüme, durch nichts zu unterdrückende Drang lebte, Künstler zu werden. Gleichviel ob Bildhauer, Maler, Musiker, Schriftsteller oder Architekt, meine Sehnsucht umfaßte alle Künste. Besonderer Zufall spielte mir einen mehrere Zentner schweren Ballen Makulatur in die Hände, die mein Vater beim Althändler Nathan für 50 Pfennig erstanden hatte. Er wurde der herrlichste Schatz meiner Jugend, fand ich darin doch Auszüge aller Klassiker vor und nach Goethe – eine Universalbibliothek. Nächtelang las ich, in Staunen versunken, allerdings ohne sie ganz zu verstehen, alle diese herrlichen Werke.

Nach ihren Mustern entwarf ich historische Romane, Balladen und Gedichte. Außerdem zeichnete ich alles ab.

Merkwürdigerweise aber kam es mir nicht in den Sinn und weder mein Zeichenlehrer, ein Original Namens Thöricht, noch sonst jemand teilte mir mit, daß man nach der Natur zeichnen könne – so bildete ich nur Vorlagen nach.

Nun glaubte mein Vater, da uns die Mittel zum Studium der Kunst gänzlich fehlten, am besten zu handeln, wenn er mich zu einem Maler in die Lehre gäbe. Er meinte es herzlich gut, aber es war nur ein Anstreicher; ich mußte Türen, Tore und Fenster streichen, kam von oben bis unten mit Oelfarbe besudelt, tief unglücklich nach Haus und roch so nach Terpentin, daß meine Eltern wohl einsahen, dies sei nicht der Weg, meine Ideale zu verkörpern.

Dann kam ich zu einem Stockgriffe schnitzenden Drechsler, – aber auch dort war meines Bleibens nicht.

Nun sagte mein kluger Vater: „Da es mit der Kunst nichts ist, rate ich dir, die Beamtenkarriere einzuschlagen, so wie ich. Du wirst im Alter mit einer kleinen, aber sicheren Pension vor Sorgen geschützt sein.“

Er tat mich also zu einem Gerichtsvollzieher als Schreiber.

Dem verschrieb und verdarb ich seinen sämtlichen Papiervorrat, und mancher Schuldner erhielt statt einer Zahlungsaufforderung ein Schriftstück voll unverständlicher Verse. Grübelnd, mit der Welt und mit mir zerfallen, saß ich an dem großen Schreibtisch in dem altertümlichen Gemach. Keine Hoffnung blickte mich aus der engen Straße durch die trüben Fensterscheiben an, und Verlangen nach meinen Büchern, angefangenen Zeichnungen und Gedichten zerriß mein kindliches Herz. Mein lieber, alter Vater, entgegen anderen Vätern, die ein Kind, das in seinem Wesen aus den gewohnten alltäglichen Geleisen drängt, zurückprügeln, und es mit roher Gewalt in die Bahnen zwingen, die sie gegangen, – sorgte sich in schlaflosen Nächten und mit Umfragen in unserem kleinen, armen Kreise, wie mir zu helfen sei?

Unsere Bekannten hatten mit Bewußtsein nie ein Bildwerk oder Gemälde gesehen, außer in den Kirchen.

Zwar Oratorien wurden von einem musicliebenden Kreise aufgeführt, und mit sehnend weiten Augen und schlagenden Pulsen las ich in meinem Goethe: „Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach“ – und weiter „Und Marmorbilder stehn und sehn dich an.“

War das die Dichtung?

Ein Marmorbild stand auf unserm kleinen Kirchhof zwischen zerfallenen Gräbern, – war das die Bildnerei?

Die Schöpfung Haydns brauste mir in dem Kirchlein entgegen, – war das die Musik?

Altdeutsche Bilder auf goldenem Hintergrund grüßten vom Altar, – war das die Malerei?

Die säulengeschmückte Sandsteinfassade, der reichgehauene Erker des Rathauses standen da in zerstörter Pracht, – war das die Architektur?

Und wo dies alles fassen, es in die dürstende Seele trinken, sich in allen diesen Künsten berauschen können, bis zur höchsten Erdenseligkeit? Gab es keinen Menschen, keinen, der in meinem blassen, vergrämten Antlitz, in den Augen des jungen Menschen jene Eigenschaften sah, die den Künstler machen?

Nein, es gab keinen.

„Die Goldschmiedekunst,“ erörterte eines Tages mein Vater, „ist doch diejenige Kunst, welche den großen Künsten am nächsten kommt.“ – Da eben von dem Goldschmied des Oertchens ein Lehrling gesucht wurde, trat ich dort ein.

Ich hätte unter der Leitung dieses weitgereisten und geschickten Lehrherrn ein tüchtiger Goldschmied werden können, aber – aber, – ich wurde es nicht.

Wenn ich, den Blasbalg ziehend, Gold und Silber glühen oder löten sollte, skandierte ich Verse, ergrübelte Bilder und summte Lieder.

Natürlich zerschmolz das edle Metall; die festesten, ältesten Silbergefäße gaben es auf, der gedankenlos angefachten Glut zu widerstehen, und krausten sich, gleich den Bleigüssen in der Silvesternacht, zu unförmlichen Klumpen zusammen. Das Gold versickerte im Feuer und fand sich erst in schwarzen Kügelchen gleich Tränen in der durchgesiebten Asche wieder. Verstohlen aber bewunderte ich, wie der Geselle im Goetheschen Liede, fleißig feilend und schmiedend, das liebreizende Ehegespons meines Lehrherrn; und als das kleine Erstgeborene, das tote Mariele, wachsbleich aufgebahrt lag, legte ich erschüttert in seine zarten Hände ein Myrtensträußchen, das ich heimlich vom Baume meiner Schwester geschnitten.

Eingehend lehrte mich der Meister bossieren, ziselieren, treiben und gravieren; doch entsetzlich, – ich sah auch wie Unverstand und besonders der verhängnisvolle Niedergang guten Geschmacks die Reichen der Stadt und Umgegend veranlaßten, ihre wertvollen, alten, silbergetriebenen Geräte, Gefäße und Filigranarbeiten, schön gegossenes und geformtes Silberzeug und antiken Goldschmuck in unserer Werkstatt einschmelzen zu lassen.

Den Wert dieser Kunstwerke ahnte ich nur dumpf, aber noch jetzt traure ich jenen Schätzen nach, die ich gezwungen wurde, zu vernichten.

Hanau, Pforzheim und andere Fabrikstädte überschwemmten Deutschland mit wertlosen gepreßten, mit Schellack und Pech ausgefüllten Tafelgarnituren und Schmucksachen. An den Busen der Schönen verdrängten massive Broschen die Filigrangehänge im Empirestil, und schwere plumpe Ohrringe zerrissen die zarten Ohrläppchen.

Viel reizende, kleine, schreiende Mädchen, deren Ohren durchlocht wurden, habe ich damals mit Naschwerk trösten müssen, während mein Meister edle Silbergefäße auf dem Ambos zu unförmlichen Knäueln zerschlug.

Eintönig flossen die dunklen Tage dahin. Auf den engen Hof gingen die Fenster der rußigen Werkstatt, die ich selbst reinigen und heizen mußte.

Wenn der graue Wintertag fast den Herzschlag stocken ließ, wenn die dicke Schneedecke sich zu Mauern türmte, die düstre Stadt samt Berg und Tal und Flüssen begrabend, dann beschlich den Goldschmiedlehrling, dessen Gesicht Haar und Kleidung schwarz von Kohlenstaub starrte, eine unbezwingliche Traurigkeit

Jene Trauer, die so leicht junge Herzen erfüllt.

Klingende Strophen flossen über seine Lippen und nahmen Liedesform an.

Eines der damals entstandenen Gedichte möge hier folgen:

Ueber die schweigenden Bergeshöhn

Sinkt sterbend der Sonnenstrahl,

Die Blätter rauschen, und Abendwehn

Durchzieht daß dämmernde Tal.

Leise tönet der Glockenklang,

Fern wallet und wogt die Flut,

Es klingt zusammen so schwer und bang

Verschwimmend in Abendglut.

Alles wird still in heiliger Ruh

Betend erhebt sich das Herz

Nacht! Drücke auch mir die Augen zu

Und führe mich himmelwärts.

Doch wenn es dann lenzte, wenn das Fuldaflüßchen zum reißenden Strome anschwoll, der in ungeheurem, die Talebene überschwemmendem Eisgang mit Donnergetöse majestätisch daher kam, wenn es von den Bergen rieselte, und an den Hängen der letzte Schnee versickerte, dann zog ich hinaus, wo das lichte Gold der Himmelsschlüssel und das zarte Weiß der Schneeglöckchen durch verwehtes Laub lugten.

Hier das erste smaragdne sammetweiche Blatt eines Buchenreises bewundernd, dort verstohlen in das Nest eines Waldsängers schauend.

Auch die in diesem Lebensalter epidemisch auftretende Dummejungenliebe zog mächtig, das bißchen Verstand noch vernichtend, in des Lehrlings Herz.

Die niedliche Schwester eines Freundes, die mich, ohne es zu wissen, mit ihren Kirschaugen und blühendem apfelrundem Gesichtchen, tief unglücklich machte, war lange Jahre das Ideal. Mit allem Glanz meiner Knabenphantasie, mit allen erdenklichen Vollkommenheiten des überirdischen Wesens, das ich Jungfrau nannte, stattete ich die heimlich Geliebte aus.

Ueber die merkwürdigen Schicksale ihrer Familie, die mit meinen damaligen Erlebnissen eng verbunden ist, möchte ich dir, Maria, die du ja von je eine Herzensergründerin und Seelentrösterin warst, einiges mitteilen.

In die bescheidensten Stübchen unseres Hauses war eine arme Witwe gezogen, die sich mit einer Anzahl bildhübscher Kinder durch Nähen mühselig ernährte. Ihr Mann hatte sie vor Jahren plötzlich verlassen, doch bald war die Kunde aus dem fernen Weimar gekommen, daß er dort als Intimus des Großherzogs eine hervorragende Stelle einnehme.

Die auflebende Frau sandte ihm aufs Geradewohl die ältesten zwei Kinder, meinen Jugendfreund und seine Schwester hin, um ihnen dort eine bessere Erziehung geben zu lassen.

Eines Wintertages nun begab es sich, daß ein schöner Jüngling im wehenden, im Städtchen noch nie gesehenen Mantel und braunen, tief auf die Schulter fallenden Lockenhaar in unser Haus trat. Eine Gestalt, wie sie Kaulbach in seiner Illustration zu Goethe gezeichnet, als er ihn, den Dichter, Schlittschuh laufend darstellte.

Die Jugend ganz Mündens stand Kopf, und ich war sehr stolz, der vertrauteste Freund dieses bewunderten Adonis zu sein.

Er war es, der mir die erste Schilderung des Weimarer Goethe-Kultus gab, und mit ihm wanderte ich fortan durch Berg und Tal, dichtend, denn auch er machte Verse, und philosophierend.

Aber das Kostbarste, was er mir brachte, war eine große Mappe voll herrlicher Stiche nach den großen Meistern der Renaissance, aus ihren Blättern leuchteten mir die ersten Strahlen echter Kunst entgegen.

Von nun an verschlang ich heißhungrig Biographien berühmter Männer. Die Kämpfe, welche ihr Genius mit widrigem Geschick und menschlichem Unverstand zu bestehen hatte, erschienen mir von nun an als das Interessanteste ihrer Lebensbeschreibung.

So romantisch angeregt zogen wir auf Entdeckungsfahrten aus.

Manche Erinnerungen früheren Reichtums fanden sich in Kirchen, Schloß und Rathaus.

Wir schabten unter der Tünche der verfallenen Schloßkapelle alte Fresken hervor, standen leidvoll vor den auf den Schutt geworfenen, schönen geschnitzten Toren des Rathauses und rätselten über allen Inschriften und morschen Steingebilden der Kirchhöfe.

Die Chronika der Stadt erzählte viel Interessantes. So von einer Nonne des Klosters Hilwardshausen, dessen romanische Kirchengiebel noch im Fuldatal ragen, wie die Fürstentochter, kurz vor Weihnachten im verschneiten Rheinhardtwald verirrt, nur durch das Vesperglöckchen Mündens sich zurecht gefunden.

Die Glocke, welche noch jetzt allabendlich vier Wochen vor Weihnachten ihr leises Geläute in das winterliche Tal sendet, hat sie zum Gedenken ihrer Rettung gestiftet.

Das alte Buch erzählte uns von jenem Schwedenhauptmann, der heldenmütig die Stadt gegen Tillys Scharen gehalten, bis er da, wo jetzt mein Elternhaus an der Stadtmauer lehnt, gefallen ist.

Wie Mündens Bürger im Unverstand und Brotneid das erste von Kassel kommende Dampfschiff, eine Erfindung Papins, zertrümmerten.

Entrüstet plaidierten wir in jugendlicher Begeisterung für ein Denkmal, das die büßende Stadt diesem Genius schulde. Ja, später entwarf ich dazu sogar eine Brunnenskizze.

Aus den niedrigen Schatten des Kleinbürgerlebens, aus dem Philisterium einer genügsam dahin vegetierenden Gemeinde, die in dem ganz Deutschland beherrschenden, reaktionären Stumpfsinn ihre Kirchen, Rathaus, Schloß und interessanten alten Bauten verwahrlosen und verfallen ließ, sehnten wir uns glühend hinaus, in eine reinere, kunstgetränkte Atmosphäre.

Unter den Trümmern der Vergangenheit unserer Waldheimat erlebten wir notgedrungen in selbst geschaffener Phantasiewelt mehr, als in der stagnierenden Gegenwart.

Frisch, fromm, fröhlich, frei zog das harmlose Treiben der Sänger-, Schützen- und Turnerfeste an uns vorüber, ohne daß sie, da diese Volksbelustigungen jedes höheren Schwunges entbehrten, uns besonders erregten.

Dennoch war es ein poetisches Bild, die Stadt, in deren enge Straßen mit altertümlichen Holzbauten der ringsherum Kühle atmende Wald verschwiegen hineinsah, im Festschmuck zu sehen. Die in den Flußarmen liegende zeltbebaute Insel, die vergilbten Fahnen der Gewerbe und Gilden, die vorsündflutlichen Zylinder und Bratenröcke der Bürger mit Sträußen und bunten Schärpen. „So sprengte furchtbar schön auf stolzem Rosse des Städtchens Bürgermeister durch die Gosse.“

Endlich nach 3 ½ Jahren hatte ich ausgelernt und sollte als Geselle auf die Wanderschaft gehen. In Hildesheim hatte mein Lehrherr mir eine Stelle ausgemacht. Noch einen letzten Blick auf die Heimat werfend, bestieg ich den Zug, der, einen schönen Bogen am Berghang beschreibend, mich hinaus ins Leben führte.

Ein merkwürdiger Zufall hat es gefügt, daß ich als erste Etappen meiner Lebensfahrt die beiden interessantesten alten Städte Deutschlands, Hildesheim und später Nürnberg, kennen lernte.

Beide damals noch unberührt von moderner Zerstörung und Bauwut. Hildesheim in engen stillen Verhältnissen abseits der großen Straße, mit seinen wohlerhaltenen Holzbauten, dem herrlichen Dom mit den ehrwürdigen Erztüren, erschien mir wie ein erstarrtes Bild aus einem fernen Jahrhundert, dessen Duft noch in den heiligen Innenräumen des Gotteshauses und um den wilden Rosenstock, der seine Mauern umschlingt, wehte.

Mein ungebildeter Geist, der die hohe Kunst der Kleinodien des Domes noch nicht faßte, fühlte dennoch mit ahnendem Sinn für Ewiges, daß hier Schätze deutscher Kunst vorhanden waren.

Die Wunder und Rätsel, die der romanische und frühgotische Stil selbst für kunstwissenschaftlich Geschulte in sich birgt, waren meine ungelehrten Augen nicht imstande zu fassen.

Allsonntäglich durchwanderte ich auch die fernsten Straßen, ohne Führer und Lehrer zu finden.

Besonders gern ging ich über den Stadtwall, der mit seinen geheimnisvoll rauschenden hohen Baumkronen, mit dem Ausblick ins weite Land zu einer Höhe führte, auf welcher sich die gesamte Bevölkerung harmlos vergnügte.

Ein Sommertheater sorgte für gute Laune, und weithin knallten die Pfropfen des aus irdenen Kruken schäumenden Gerstenbieres.

Auf dem Nachhauseweg im dämmerigen Sommerabend entwickelte sich ein fideles Leben. Besonders erklang von Trupp zu Trupp des heimziehenden Schwarmes ein damals beliebter Gassenhauer. Die erste Kolonne setzte ein mit: „O Hannes, wat ’n Haut“, die Folgenden: „De klädt die bannig gaut“. Und wiederum die im Hintertreffen: „De Haut de het ’n Daler kost“, der Schlußchor aber brüllte: „Un fifuntwintig Graut“.

Und so lustig fort, stets wiederholt.

Auch hier ganz einsam und ruhelos, von der einzigen Sehnsucht nach Kunst fast wahnvoll verfolgt, kehrte ich bald körperlich und geistig niedergebrochen in mein Elternhaus zurück.

Es glich dies keinem Triumphzuge, doch empfingen mich Vater, Mutter und Schwester mit der alten Liebe.

Nach kurzer Erholungszeit wanderten wir, mein Vater und ich, nach Kassel, auf die Suche nach einer neuen Stelle.

Die Chaussee steigt durch herrlichen Wald in sanften Windungen bergan, auf freier Höhe beherrscht der Blick die ganze Kette der Berge und Hügel des südlichsten Eckchens Hannovers und dringt weit in das im blauen Duft liegende Hessenland.

In einem Fiebertraum, den mir das Heimweh in Hildesheim ums kranke Herz gelegt, hatte ich diesen Weg in die geheimnisvolle Ferne schon einmal gemacht: „Wie durch Zauber öffneten sich die Riegel der niederen Tür des armen Bauernhauses, in dem ich geboren, fremdartige weiße Vögel mit breiten Schwingen umschwirrten mich, lockten hinaus in die traumhaft schöne Frühlingslandschaft. Berauscht von dem überirdischen Glanz taumelte ich sonnige Höhen und blühende Hänge hinan. Wie sollte ich ihre Gipfel erreichen? Schweigende Wälder, tiefgrüne Gründe, übersäet mit stillen Märchenblumen dehnten sich links und rechts der staubigen, steinigen Straße, auf welcher ich umsonst dem Ziele zuzustreben suchte.“

Heute war es Herbst, und als wir in den nebligen Straßen der Residenz von einem Goldschmied zum andern gingen, war es mehr ein Dornenweg, als ein frischer Aufstieg zum Leben.

Bei dem Hofjuwelier erhielt ich endlich die untergeordnetste Gehilfenstelle, und bei der Wärterin der Synagoge, einer Mündnerin, fand ich ein zwei Meter langes niederes Dachkämmerchen.

Mir gegenüber hauste ein Sattlergehilfe.

Er entpuppte sich als ein naher Verwandter Kaulbachs aus Arolsen, und da ihm mein stilles Dichten und Trachten nicht entging, erzählte er mir manches vom Werdegang dieses damals auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Künstlers.

Auch wußte er von dem Waldecker Bildhauer Drake zu sagen, der später eine Prinzessin dieses Fürstenhauses heimführte.

Wir schlossen uns aneinander, speisten zusammen für 50 Pfennig, und wenn ich fast verzweifelte, richtete er mich auf und lehrte mich an dereinstige Erfüllung meiner Hoffnungen glauben. Späterhin wurde er der Mann meiner Schwester.

Viel schöne jüdische Frauen, geheimnisvoll verhüllt, mit großgeschnittenen Zügen, deren aus Schleiern hervorleuchtende Glutaugen einer Ruth glichen, huschten in das kleine Haus, in welchem sich das rituelle Bad befand.

Durch die Türen der Synagoge brach der Glanz der großen jüdischen Festgottesdienste, wehte das geheimnisvolle Murmeln der in eigenartige Gewänder gekleideten Andächtigen zu mir herüber.

Den Kurfürsten von Hessen sah ich noch in nüchternster Kleidung die Königstraße entlang wandern, ein Bäckerjunge stieß ihn gerade mit seinen frischen Semmeln vom Fußsteig herunter, was er weiter nicht übel zu vermerken schien.

Die Kunstsammlungen der Residenz aber hielt er verschlossen.

Eine Akademie der Künste fristete jedoch ein kümmerliches Dasein.

Der neben mir feilende Lehrling besuchte dort die Modellierklasse und zeigte mir zum erstenmal jene aus Holz geformten Stifte, die wir Modellierhölzer nennen. Auch brachte er eine Kopie nach der Antike, von der ich bis dahin nichts wußte, einen in Ton gekneteten Apollokopf mit.

Ein wahnsinniges Verlangen stieg in mir auf, solchem Studium mich hingeben zu dürfen, und ich umschlich in jeder freien Stunde jene Akademie, ohne sie jemals zu betreten.

Zerfressen vom Kummer, die so nahe gerückte Stätte der Kunst nicht erreichen zu können, durchstrich ich die mir kühl und vornehm erscheinenden Straßen, jeden Menschen daraufhin anschauend, ob es ein Entdecker meiner bescheidenen Person sei.

Fragend, schüchtern, verzweifelt, tauchte ich meine Blicke in die Augen der Vorübergehenden, ob vielleicht einer dieser stolzgekleideten Herren des Hofes aus meinem Wesen, in meinen gespannten Zügen, mein Wollen und Hoffen lesen könne.

An dem kleinsten Schraubstock der großen Werkstatt still und verschlossen schabend und hämmernd, in unglaublicher Ungeschicklichkeit die verhaßten Arbeiten des Handwerks ausführend, zergrübelte ich mein Hirn nach einem Ausweg.

Von Münden hatte ich mir eine dünne Bleiplatte mitgebracht; mit selbstgefeiltem Modellierstift drückte und preßte ich ein Antlitz hinein, das der schönsten, badenden Jüdin gleichen sollte.

Oft schien es von den flackernden Flämmchen der Talglichtstumpfen, die den Leuchtern der Synagoge entnommen waren, wie täuschender Lebensschein darüber zu huschen.

Meinen letzten Pfennig trug ich wissensdurstig in die Leihbibliothek.

Da plötzlich ging ein Raunen durch die Stadt, Angst und Schrecken zeichnete die Gesichter der Bewohner. Ein furchtbares Schicksal erhob sich über unsern Landen, und es hieß, die Preußen ständen vor den Toren Kassels.

Wiederum mußte ich schiffbrüchig, noch nicht 18 jährig, in den Hafen des Elternhauses zurückkehren.

Der Kurfürst floh, und ich selbst erreichte mit dem letzten Eisenbahnzuge Münden vor Ausbruch des sechsundsechziger Krieges.

Da du, Maria, mir bis hierher liebevoll gefolgt bist – denn über Deine Augen sah ich die Schatten meiner Erinnerung ziehen – so tritt nun ein mit mir in jene entscheidendste Epoche meines Lebens.

Dem niederen Vaterhause gegenüber reckte sich gigantisch ein Jahrhunderte alter Turm der Befestigungswerke, von dessen hoher Plattform man im Innern Schrot goß.

Diese den Tod bringenden Kügelchen wurden in grobe Leinwandsäcke verladen, dicht vor unserer Tür, und auf solchem Sacke sah ich eine Abbildung des Turmes nebst der Fabrikfirma gedruckt.

Ein Bauer auf dem nächsten Dorfe fertige, so ging die Fama, die Holzplatten zum Druck; mit einfachem Taschenmesser, ohne jeden Unterricht, schnitze er die kunstvollsten Bilder.

Und nun, Maria, sieh’ die kunstbegeisterten Dioskuren der Kleinstadt, mich und meinen schon geschilderten Freund hinaus wandern, das Herz voll Hoffnung und Staunen, nun endlich einen Menschen, wenn auch nur einen Bauern, zu finden, dessen Finger jene Wunder formten, die mein stetes Sehnen waren. Ich sollte in eine mir bis dahin verschlossene Werkstatt der Bildschnitzkunst treten, vielleicht in den geheimnisvollen Werdegang eines Kunstwerkes selbst Einblick gewinnen!

Ein goldener Sommertag geleitete uns durch kühle Täler zu dem in einer Senkung still verborgenen Dörfchen. Vom Felde hereingerufen, stand der bildschnitzende Ackersmann mit derben, gebräunten Fäusten und sonnverbranntem breitem Gesicht vor uns. Bereitwillig zeigte er all seine Kunst, die auf einem Tischchen vor dem Fenster der engen Bauernstube ausgebreitet war.

Da lagen Grabtafeln mit Engeln und Christusfiguren, ungeschickt, aber naturwahr, roh in Holz geprägte Physiognomien der verstorbenen Dorfbewohner. Auf Kreuzen und an Türbalken hatte sein Messer eine tief einschneidende Wirkung geübt. Aber mit besonderem Stolze zeigte der Bildnerbauer eine wohl nur fußbreite Buchsbaumtafel, auf welche er Bendemanns Gemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ als Flachrelief in genauester Ausführung eingegraben hatte. Damals natürlich wußte ich noch nichts von jenem Gemälde, ich sah nur mit Entzücken, was hier durch eines Menschen Hand, von ungefüger, schwieliger Faust, in unsagbarem Fleiß und nicht auszudenkender Geduld dem Holzblock abgerungen war.

Zurückstürmen nach Haus, durch alle Tischlerstätten suchen nach einem Buchsbaumholzblock, doppelt so groß als der des Bauern, war eins! Der aus Weimar stammenden umfangreichen Mappe wurde der schönste alte Holzschnitt entnommen, und nun ging es am kleinen, kaum Licht genug gebenden Hoffenster an ein fieberhaftes Schnitzen.

Unterdes verwandelte sich die friedvolle Szenerie der Heimat ebenso eilig wie schrecklich. Durch das Städtchen zogen Kriegermassen, fern rollte der Schlachtendonner von Langensalza, und auch bei uns lagen Preußen im Quartier. Neugierig beugten sich die aus allen Teilen Norddeutschlands stammenden Recken über meinen Tisch und staunten das an, was ich, fleißig bis in die Nacht schnitzend, mühsam fertigte. Keiner hatte je so etwas gesehen, nur ein Kölner Landwehrmann berichtete, daß dort am Dom derartige Figuren in Sandstein gehauen würden. Mit unbewußtem Empfinden für das wahrhaft Schöne hatte ich einen prachtvollen Kupferstich gewählt, der in freier, formvollendeter Komposition und höchster Technik die Verkündigung der Geburt Christi darstellte. Mit Wonne verfolgte mein Auge die Linien des im Vorderdergrunde schlafenden Hirten. In unnachahmlicher Lässigkeit, jedes Glied vom Schlaf gebunden und gelöst, ruht diese jugendliche Gestalt vor dem Eingang einer Hütte; die Haare liegen verwischt an den Schläfen und fließen über den vom Kopf gerutschten Hut. Die edel geformten Beine mit Fellen umwickelt und den Hirtenstab durch den unter dem Kopf verschränkten Arm geschoben, ist er noch vom Schlummer umfangen, während sein Weib, den Säugling im Arm, schon dem himmlischen Gesang der Engel lauscht. Weit über die in stille Nacht getauchte Ebene zieht die Kunde, und überall erheben sich Gruppen der Hirten, das Wunder der Geburt in die gläubigen Herzen zu fassen. Kühe und Schafe liegen bei den Strohhütten. Vom Himmel schweben Engelchöre, und von der Erde strecken sich ihnen die Hände der erwachten Menschen entgegen. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ – so grub ich in achtwöchigem Bienenfleiße in die Holztafel, während um mich der männermordende Krieg tobte und unablässig Massen von Soldaten durch die Stadt fluteten. Endlich war es vollendet, die enge kleine Straße war voll davon, die Nachbarn flüsterten sich zu: „Eberleins Gustav hat nur mit einem Messer ein merkwürdiges Bild in Holz geschnitten.“ – Die Verwandten der Mutter, die Bauern meines Heimatsdorfes umstanden samt den Nachbarn fassungslos mein Werk. – „Hei möt Bildhauer warn un studieren, de hat en gauden Kopp, da steckt wat in“, so schwirrte es im Kreise.

Eines Tages schöpfte mein alter, für mich kämpfender Vater Mut und nahm mich, das Schnitzwerk unter seinem Militärmantel bergend, mit in den Gasthof „Zum goldenen Löwen“. Dort tafelten die preußischen Offiziere. In den längst zu engen Konfirmandenrock gezwängt, aus dessen kurzen Aermeln lang die Hände hingen, verfolgte ich. verwundert mein Schnitzbild, das der Vater den Herren Offizieren an der Tafel herumreichte, ihre Meinung erbittend.

Keiner wußte was damit anzufangen. Zwar viele Stimmen trafen mein Ohr: „Famos, ausgezeichnet, phänomenal!“ – im Nasenton geschnarrt – aber selbst der Kommandierende war ratlos und traurig zogen wir heim.

Dann hieß es, die Professoren der nahe gelegenen Universität Göttingen würden wohl Bescheid wissen. Und mein Vater machte sich mit meinem Werk wieder auf, kehrte aber unverrichteter Sache zurück. Dann trug er es zum Bürgermeister. Der meinte, man habe keine Mittel, mich auf eine Schule zu schicken. Nirgends der leiseste Hoffnungsschimmer!

Schmerzlich auf meine Tafel gebeugt, saß ich eines Abends in der Dämmerung.

Da klopfte es, und herein trat der uns fremde Prediger der in der unteren Stadt gelegenen St. Blasienkirche.

Er wünschte meine Arbeit zu sehen, und – „über ein Kleines war meine Kammer voll Sonne“.

Sein klarer verständiger Blick, seine große Herzensgüte und warmes Empfinden für mein kindliches Kunststreben bahnten mir fortan den Weg, den ich bis jetzt, in tiefster Dankbarkeit für den seltenen Mann gegangen bin.

Ein Patrizier aus Nürnberg weilte just zum Besuch in Münden; diesem vertraute er die Relieftafel, damit er sie dem Direktor der Nürnberger Kunstschule zeige, der sich vom Bäckerjungen zum genialsten Leiter dieser damals bahnbrechenden Kunstschule emporgearbeitet hatte. Mehr noch! Um auch durch die Tat zu nützen, gab mir der Pastor den Auftrag, für dreizehn Taler ein Kruzifix in Holz für den Altar seiner Kirche zu schnitzen. Ueberselig holte ich mir einen Ballen Ton vom Töpfer und versuchte, ein Bild des Erlösers zu vollbringen.

Hier füge ich die Dichtung ein, welche diesen Vorgang behandelt:

Das Kruzifix.

Für meiner Heimatstadt ehrwürd’ge Kirche,

Die manches Kleinod noch der Kunst verwahrt,

Sollt’ ich einst, hochbeglückt, mein erstes Werk,

Den Kruzifixum für den Altar schnitzen.

Noch war ich nicht aus meinem stillen Heim,

Aus engem Raum in ferne Welt getreten,

Doch träumt’ ich schon von künft’gen gold’nen Tagen;

Noch hatt’ ich meine Flügel nicht erprobt,

Doch war mir schon die Brust von Herrlichkeiten

Und Feuereifer mutvoll angefüllt.

So schritt ich denn in weihevoller Stunde,

Da schon die Dämmerung herabgesunken,

Aus den Gewölben in das stille Kirchenschiff.

Der Abendsonne staubdurchwebte Strahlen,

Sie küßten noch die Scheitel jener Engel,

Die reich bewegt auf dem barocken Bau

Des mächtig ragenden Altares standen,

Und die ich schon als Knabe angestaunt,

Wenn ich, im Herzen sel’gen Kinderjubel,

Mit meinem Lichtlein durch den tiefen Schnee,

Zur Weihnachtsfrühe in den Raum getreten.

Dort an dem altersgrauen Sarkophage

War ich erschauernd ehrfurchtsvoll gestanden.

Und staunend war und wunderbar erregt

Mein Blick von Bild zu Bild umhergegangen.

Und jetzt sollt’ ich nun selbst ein Bildnis schaffen

Für diesen gottgeweihten heil’gen Raum.

Wie sollten sich des Gottessohnes Züge

In Schmerz und Schönheit aus der Seele ringen?

Wohl flocht ich mir aus blassen Heckenrosen,

Vom Werke ganz erfüllt, die Dornenkrone,

Doch schwebte noch des Blütenlebens Duft,

Der Rosen Erdenschönheit über ihr.

Wohl sah ich viel im bleichen Angesichte

Der Menschen um mich her die Runenschrift

Des Leidens und der Arbeit aufgeprägt,

Doch strebt’ ich nach der hohen Offenbarung

Des Gottes in der menschlichen Gestalt,

Und durch die Blässe seines Martertodes

Da sollte noch des Ew’gen Schönheit leuchten.

Noch nie hatt’ ich in meinem jungen Leben

Den Tod und die Verwesung je erschaut,

Doch Wahrheit wollt’ ich, wollte Todesnacht

Und Majestät hin auf das Antlitz bannen,

Das wirre Strähnen blut’gen Haars umrahmten,

Dem unsagbarer Schmerz die Stirne‘ furchte,

Durch dessen fahle, blutentleerte Haut

Die Blässe langsam Sterbender aus einer

Ungekannten Welt herüber schien,

Dess’ edlem Mund, der Liebe nur gelächelt,

Geöffnet halb, der letzte Hauch entfloh,

Und dessen wunderbare Gottesaugen

Des Todes bleiche Lichter jetzt umspielten.

Und wieder war es in der Dämmerung,

Da ich das Kruzifix, nun endlich fertig,

Hin in des Heimatstädtchens Kirche trug.

Es war ein weicher, warmer Sommerabend

Und viele Wochen waren hingegangen,

Eh’ ich’s vollendet; blut’ger Bruderkrieg

Des innerlich entzweiten Vaterlandes

War donnernd auf dem eh’rnen Rade

Hart an der kleinen Stadt vorbeigerollt,

Doch jetzt war Frieden; auch im Herzen mir

War Frieden. Als ich das heil’ge Gottesbild

Gerührt und froh hin auf den Altar setzte,

Gedenkend jener bitt’ren Träumerei’n

Und daß ich nun mein ganzes, langes Leben

Dem Dienste meiner schönen Kunst geweiht,

Daß ich sie nun so ganz umfassen sollte,

Fort aus der Heimat, aus der kleinen Welt,

Hinaus ins fremde, ferne, ungekannte Leben,

Da rollten Tränen auf das Kruzifix.

In begreiflicher Spannung harrten wir der Nachricht aus Nürnberg.

Endlich kam sie und fiel günstig aus. Der Direktor riet, die dortige Kunstschule zu besuchen, um mein schlummerndes Talent zu wecken. Da ich keinerlei Mittel habe, wäre es vielleicht möglich, tagsüber fürs liebe Brot in einer der dortigen Werkstätten zu schnitzen und abends von fünf bis sieben auf der Kunstschule zu lernen. Mit tausend Hoffnungen sah ich der Zukunft entgegen; reich ausgestattet mit des gütigen Pfarrers dreizehn Talern für das Kruzifix und noch fünf Talern von meinen Eltern, im stolzen Besitz einer silbernen Uhr, die mein Vater gegen seine alte eingetauscht, reiste ich ab.

Jener neblichte Herbstmorgen steht unauslöschlich vor meiner Seele. Mein Vater hatte mich früh um sechs Uhr geweckt und geheimnisvoll in den Garten geführt. „Hier“, flüsterte er, „habe ich deinen Christus begraben. Das Tonmodell des Gekreuzigten soll nicht zerfallen, da du es unfertig zurücklassen mußt. Keine Hand soll daran rühren, hier ruht es unter dem Apfelbaum, wo du dir selbst das Bänkchen gezimmert und so gern saßest.“ – Weinend umfaßte ich den alten Mann, und ein inneres Versprechen, all dieser Sorgen mich einst würdig zu zeigen, lieh mir das geheime Feuer der Energie, das bis heute mich durchströmt.

Noris, du alte, herrliche Stadt, sei mir gegrüßt! Als ich zuerst dich erblickte, umgab ein unsäglicher Zauber deutscher Poesie deine efeuumsponnenen Mauern, dein Zollernschloß und deine Burg. Hier war die sagenumrauschte Geburtsstätte aller deutschen Kunst, und die geweihten Gräber ihrer Heroen sind noch erhalten.

Ich trat ein in den reinen Kreis von jungen Strebenden, der dem Kultus jener großen Blüte der Kunst und des Kunsthandwerks, die von Nürnberg ausging, huldigte. Arm und hungernd saß ich zwar oft in den Chorstühlen der schönen Kirchen, die herrlichen Werke der Meister bewundernd, aber dennoch sind die drei dort verlebten Jahre mit tiefer Schrift in mein Leben geschrieben. Unvergeßliches habe ich dort gefunden, und edle Menschen waren mir hilfreich und gut.

Im kleinsten Gasthof am Frauentor stieg ich ab und suchte dann scheu und schüchtern jenen Patrizier auf, der sich für mich verwendet. Er ging mit mir, eine Wohnung suchen, und sandte Feuerung für den Winter ins Haus. Ebenso verschaffte er dem Fremdling Arbeit in einer Schnitzwerkstatt. Dort habe ich viele Wochen lang Bären schnitzen müssen, auch Bilderrahmen, die aus Stäben, natürlicher Ranken und geschmacklosen Motiven gebildet waren. Abends aber modellierte ich auf der Schule Ornamente, kopierte später in der Antiken-Klasse Köpfe, Füße und Hände – es war der alltägliche Gang jedes Kunstschülers.

Aber all dies genügte mir nicht, und so machte ich mich daran, etwas zu ersinnen, eine figureliche Szene zu komponieren. Zu den einzelnen Körperteilen benutzte ich die Statuen des Antikensaals. So entstand meine erste grausige Komposition: „Des Sängers Fluch“ nach Uhlands Gedicht. Besonders der furchtbar prächtige König mit den Beinen des farnesischen Herkules und die vollmondsüchtige Königin mit dem Busen der mediceischen Venus schienen mir herrlich gelungen. Zum alten Sänger hielt mein damals schon in wilden Bartansätzen sich bergendes, sorgenvolles Gesicht her, und dem Jüngling versuchte ich die Züge des blonden Wirtstöchterleins, in das ich mich natürlich sofort sterblich verliebte, aufzuprägen. Mutig stellte ich diese Mordgeschichte meinem Direktor vors Antlitz, so daß derselbe fast vor Lachen in Krämpfe verfallen wäre. Trotzdem zeichnete er mit Meisterhand die notwendigen Typen der Köpfe bewunderungswürdig klar und charakteristisch neben mein Machwerk. Daraus habe ich viel gelernt, und künftig brachte ich ihm auf seinen Wunsch alle meine Kompositionen, die er nachsichtig und liebevoll korrigierte.

Nach dem ersten Vierteljahrsabschluß aber o Grausen! gähnte mich ein beträchtliches Defizit an, trotz großen Fleißes war ich nicht imstande, die Miete zu zahlen. Vom Hunger getrieben, der mich unfähig zur Arbeit machte, ging ich endlich nach langem Zögern den schweren Gang, den reichen Patrizier um Hilfe anzuflehen. Schwer war der Weg an Albrecht Dürers Hause, an Adam Kraffts verwitterten Leidensstationen vorüber. Vor der Güte des vortrefflichen Mannes aber zerfiel meine weinende Sorge in nichts; lachend verlangte er, die kleinen Schulden fortan tilgen zu dürfen. Auch ein sogenannter Schillerpreis von fünfzig Gulden wurde mir verliehen, so daß ich in dem Hochgefühl eines Krösus das Holzschnitzen an den Nagel hing, jetzt den ganzen Tag bis abends spät die Schule besuchte und in den Nächten fleißig meinen Kompositionsgelüsten nachging. Bald war es der Gedanke, der sich widerhaarig nicht in die künstlerische Form pressen lassen wollte, bald war es die Körperform, die sich, ungelenk und gegen alle Regeln der Anatomie verstoßend, wild gebärdete, ehe sie sich der ersonnenen Linie einfügte. Schemen und Schatten kämpften in der Kammer; um das grübelnde Hirn des im Schaffensdrang erglühenden Kunstjüngers aber wand sich schon früh das Dornenreis unerreichbarer Ideale.

Allsonntäglich zogen wir, die Vereinigung der Künstlerklause, hinaus in die fränkischen Berge, an die einsamen Seen und ließen unsere jungen Leiden, unsere Hoffnungen wie Lerchen in achtstimmigen Gesängen in die blaue Luft steigen. Der fröhliche Kreis umschloß eine große Zahl heute hochberühmter Künstler. Einige der genialsten, jetzt auf der Höhe ihres Schaffens stehenden Maler und Bildhauer Deutschlands spazierten, damals noch unbekannt, mit uns herum. War es wirklich oder schien es mir nur so: eine Reinheit der Gesinnung, eine Keuschheit der Gedanken und das ehrlichste Streben hielt unsichtbar und doch jeden einzelnen beherrschend unsere Klause fest zusammen. Kurz geschorene, lustige Käuze, feste ausgepichte Trinker, reiche junge Herren und arme Teufel, in den Wolken schreitende, langhaarige Idealisten und Schwärmer, blonde, schlanke Maler-Jünglinge mit spanischem Mantel und Sammetbarett – sie alle lebten in friedlichster Gemeinschaft. Einer der liebenswürdigsten, an Erdengütern ärmsten, aber an Geist und Phantasie reichsten, der Mitbegründer einer geheimnisvollen, leider nicht zum vollen Leben geborenen neuen Kunstrichtung, drückte unserem Zusammensein einen eigenartigen Stempel auf.

Wo seid ihr hingeschwunden, ihr Tage, da das Sehnsuchtsfieber nach Ruhm die jungen Herzen durchglühte, ihr Nächte voll romantischen Rausches, da wir, vereint, von den sagenraunenden Mauern der Burg auf die reichgetürmte, schlummernde Stadt hinunterschauten, über die einsam im Mondenlicht ruhenden Wiesen disputierend wanderten und, süddeutscher Weisen voll, singend durch die dunklen zerbröckelnden Tore zogen?! Eine unerschöpfliche Fülle echter deutscher Kunst und herrliche Erzeugnisse des Kunstgewerbes vergangener Jahrhunderte lagen vor uns ausgebreitet. Der Trödelmarkt in Nürnberg glich einem Museum, an dessen zu Bergen aufgespeicherten Schätzen die Menschen der sechziger Jahre, mit Blindheit geschlagen und ohne jede Erkenntnis dieses ihres Reichtums, teilnahmslos vorübergingen. Der Markt, die nächsten Straßen boten das Bild einer Trümmerwelt, gehäuft voll antiker Möbel, edler Gerätschaften und wertvoller Gefäße. Selbst des großen Goldschmieds Jamnitzer gold- und edelsteinstrotzende Gold- und Silberpokale standen zum Verkauf. Wenige Männer nur waren es – und ihr Andenken sei gepriesen! – deren Mahnruf die Verschleuderung der vornehmsten Originalwerke alter Kunst verhinderte, die aus dem kostbaren Material ein „Germanisches und Nationalmuseum“ schufen. Nürnberg glich einem nicht auszuschöpfenden Brunnen, dem alle Quellen des bayrischen Landes zuflossen, denn aus der nächsten Umgebung brachten Händler Wagenladungen der interessantesten Altertümer. Ja, ganze Altäre samt Silbergefäßen aus geplünderten Kirchen und Klöstern schleppten sie herbei. In Barbarismus und Kunstunkenntnis verkommene alte Geschlechter hatten vor Jahrhunderten schon diese Perlen deutscher Renaissance auf den Trödel geschafft. Dort wurden die prachtvollen Gegenstände von Bauern erstanden und in die Provinz verschleppt. Verwahrlost, zerbrochen, mit Oelfarbe dick beschmiert, schaffte man diese Antiquitäten nunmehr wieder in die Stadt, um sie in alle Welt zu verstreuen. Aus den Patrizierhäusern, aus den Festsälen der Paläste reicher alter Familien brach man die schönen Decken und Vertäfelungen, um sie für Spottpreise ins Ausland zu verkaufen. Ich war zu jung, um die schrecklichen Gewalten des Niedergangs deutscher Kunst und Kunstgeschmacks jener Tage ganz zu empfinden. Welch furchtbarer Hohn lag darin, daß in dem Jahrzehnt, in welchem sich das Deutsche Reich zu späterer Machtstellung im Stillen vorbereitete, verachtungswürdiger Vandalismus und gefühlloser Schacher das bis zum Rande mit Schönheit gefüllte Nürnberg plünderten! – Ja, man begann schon gegen seine Befestigungswerke, deren Zauber Millionen Menschen entzückt, unvernünftig zu toben, Tore und Mauern niederzureißen.

Dem hat eine spätere Zeit, die sich bemüht, das schöne Alte möglichst zu erhalten und zu pflegen, glücklicherweise Einhalt getan.

Der geniale Leiter der Kunstschule, F. A. Kreling, der Maler, Bildhauer und Architekt zugleich war, hatte diese Bildungsanstalt zur vornehmsten Deutschlands erhoben. Ein früher Tod hat ihn leider mitten aus seiner segenbringenden Tätigkeit gerissen.

Drei Jahre durfte ich die Nürnberger Schule besuchen, nach zweijähriger Abwesenheit von Hause kehrte ich zum erstenmal in den Pfingstferien heim. Ein dichter Bart umrahmte mein Gesicht, lange, nicht sehr fügsame Haare umwallten die Schläfen, und so trat ich, wohl erwartet, aber dennoch überraschend, in unser Haus.

Auf dem kleinen Hof standen meine Eltern, beschäftigt, einen Strohsack für mein Bett frisch zu stopfen. Starr blickten sie beide, ohne mich zu erkennen, bis ich tief ergriffen ausrief: „Vater, Mutter!“ Erst da ließen sie die Zipfel des Leinens erstaunt und glückselig sinken.

Am Pfingstmorgen standen vor unserer Haustür zwei junge Birkenbäume eingepflanzt, und zwölf junge Mädchen, herangewachsene Freundinnen meiner Schwester, die das Wundertier, den jungen Künstler, näher besehen wollten, saßen in unserer Stube. Ja, die ganze kleine Stadt nahm Anteil an mir, und mit anderen, nunmehr geöffneten Augen sah ich meine Heimat an.

Jetzt kannte ich alle Architekturstile, konnte ergründen, welcher Zeit eine Form, ein Bildnis oder eine Statue einzufügen sei. Unerschöpflicher Reichtum der Kunst und des Kunstgewerbes war in Nürnberg auf mich eingestürmt.

Zu jener Zeit fing man an, zu erkennen und zu sammeln, was in deutscher Vergangenheit Herrliches geboren war.

Mit verschärften Sinnen sah ich meine Heimatstadt, tief innerlich erschrocken, an. Nicht als lebensvoller Kranz erschien mir der tiefgrüne Wald umher, sondern als Schimmel und Moos, das sie umwucherte und vom Licht der Entwickelung fern hielt. Keck erhob ich meine warnende Stimme, die Väter der Stadt auf den Verfall unserer wertvollen alten Bauten hinweisend. Das Geschick war mir günstig, jetzt stehen sie innen und außen restauriert da, eine Zierde Mündens.

Der hilfreich stets sorgende Geistliche verschaffte mir für drei Jahre ein Stipendium der Königin-Witwe von Preußen, und von nun an aß und trank, ruhte und schlief ich kaum mehr, mich ganz dem Studium hingebend. Bald hatte ich die Klassen, die mir notwendig schienen, durchlaufen, und mit einem Empfehlungsbrief an einen namhaften Bildhauer Berlins, der geborener Nürnberger war, versehen, machte ich mich auf nach dem Zentrum des Deutschen Reiches.

Auf der großen internationalen Kunstausstellung in München, 1869, hatte ich die ersten bewunderungswürdigen Werke des Reformators deutscher Bildnerei gesehen. Der Stern Reinhold Begas’ war in sieghaftem Aufgehen, und sein Ruhm ward auch zu uns nach Süddeutschland getragen.

Dieser Sinnenbildner, durch dessen Werke ein üppiges Renaissanceleben atmet, der die alten Götzen der verknöcherten Rauchschule stürzte, zog auch mich mächtig an.

Mein Einzug in Berlin ist vielleicht einer der seltsamsten.

Es war im Herbst des Jahres 1870.

Auf dem Potsdamer Bahnhof angekommen, nahm mich der Glanz der Leipzigerstraße ganz gefangen. Der Pulsschlag des großstädtischen Lebens, der durch diese mir damals schon fabelhaft erleuchtet scheinende Straße wogte, benahm mir den Atem. Rechts und links dehnte sich das ungeheure Straßennetz, in dessen verworrenem Labyrinth ich mich zu verlieren fürchtete. Immer wieder hinauf- und hinabschreitend und staunend ob der Herrlichkeit, wagte ich es nicht, in meiner bescheidenen Kleidung, ärmlich gehüllt in ein Plaid, mit Lederranzen und der schon erwähnten überlebensgroßen Mappe mit Kompositionen, in eines der prächtigen Restaurants oder gar Hotels zu gehen. Ein Licht nach dem andern erlosch, verschlossen lagen bald die Häuser, und meine Füße trugen mich kaum mehr. Alle in der Provinz erzählten Geschichten von ermordeten Fremdlingen wurden lebendig, bis ich totmüde auf eine Bank des Dönhofplatzes sank. Meine Mappe stellte ich neben mich. Eiskalt legte sich die ungeheure Einsamkeit der Millionenstadt um mein Herz, als mich ein Schutzmann an die Schulter rührte und fragte, was ich hier wolle. Er habe mich schon lange, auf und ab wandernd, beobachtet. Ich teilte ihm meine Sorgen und Wünsche mit, und freundlich geleitete er mich in ein nahe gelegenes Restaurant.

In diesem Lokal, das ich leider nie wieder gefunden habe, wanderte ein zahmes Reh von einem Tische zum anderen, jeden Gast um Brosamen bittend. Wie ein Gruß aus waldumrauschter Heimat, die ich eben verlassen, wie ein Symbol des Guten, Vertrauenden im Menschen, von dem ich hoffte, daß es auch in dieser großen Stadt nicht ganz erstorben sei, nahm ich es auf. Leider gab es hier keine Schlafstätte und wiederum, doch gestärkt, begann ich meine Wanderung nach einem bescheidenen Gasthofe.

Wohl zwei Uhr nachts mochte es sein, als ich totmüde gegen das Tor eines Hauses lehnte.

Ein spät Heimkehrender öffnete die Tür und fast wäre ich mit ihm und ihr ins Haus gefallen, hätte mich der freundliche Berliner nicht aufgefangen.

Drinnen empfing uns ein verschlafener Hausdiener und im oberen Stock nahm mich ein Hotel garni auf. Eben war ich in einem eleganten Salon glücklich auf mein Bett gesunken, als es leise an meine Tür klopfte.

Vor allzugroßer Müdigkeit gab ich keinen Laut von mir. Nachdem noch umsonst versucht worden war, mit Gewalt zu öffnen, schlief ich endlich ein.

Ein Leierkasten weckte mich in der Frühe, und fröhlich stieg ich hinunter, Kaffee zu trinken.

Da begegnete mir der Hausknecht und grinste, das Maul bis an beide Ohren aufreißend. Das Zimmermädchen lehnte kokett an der Treppe und kicherte, und der Kellner unten lächelte, diskret und geheimnisvoll.

Wütend fragte ich nun den artig schmunzelnden Wirt, warum hier im Hotel jedermann lache.

„Verzeihen Sie,“ dienerte er, „aber als Sie gestern auf wiederholtes Klopfen des Zimmermädchens nicht öffneten, haben Sie es wohl nicht bemerkt, daß in Ihrem Bette weder Bettzeug noch Decke, noch Laken und Kissen waren

Nein, nichts hatte ich bemerkt, nichts gesehen. Wie ein Wanderer, der nach langer Irrfahrt die Hütte erreicht, im Dankgefühl, endlich aus dieser entsetzlichen Oede der fremden Straßen, aus der unbekannten Welt, die mich in der Berliner Nacht mit den geschlossenen Augen der Zukunft anstierte, vorläufig errettet zu sein, war ich wie ein Kind in Schlaf gesunken.

Der Vorhang, welchen ich dir, Maria, geöffnet, daß du die Jugendidylle meines Lebens kennen lerntest, möge nun fallen.

Du hast mit mir geweint und gelacht, und wenn die Erinnerung der jungen Leiden allzustark auf mich einstürmte, so daß sie Gewalt gewann, hat deine Hand, die das Glück und die Harmonie in mein Dasein gebracht, die dunklen Stimmungen von der Stirn verscheucht.

Ein unerbittlich eiserner Wirklichkeitskampf tritt nunmehr an die Stelle hindämmernder phantastischer Empfindungen.

Die mächtigste Arena für die Bildhauerei, die nach den großen Ereignissen des Krieges 1870-71 aller jungen Künstler Talent, Fleiß und Streben, alle Kräfte des Körpers und der Seele, in die Schranken forderte, wurde die Reichshauptstadt.

Dennoch war bis zu meinem ersten Erfolg noch ein langer, schlecht gepflasterter Weg, eine Kette von Entbehrungen zu überwinden.

Dreizehn Jahre gingen, man frage nicht wie, dahin, ehe ich mit meinem Gipsmodell eines Dornausziehers, das im Keller des damals im Bau begriffenen Gewerbemuseums entstand, die erste Anerkennung fand.

Wiederum verflossen Jahre, bis ich soviel erübrigt hatte, für dieses Werk den Marmor zu kaufen, und die Nationalgalerie es erwarb.

Das war die erste Etappe, die eine vielleicht später zu erzählende Entwickelung meiner Kräfte bewirkte und sie hoffentlich noch weiter leitet.