Carrarischer Marmor

Text von Gustav Eberlein, erschienen in „Gartenlaube” 1907, Nr. 4, S. 85-88.

Das erhabene Bild des Campo Santo in Genua, der eine stille Welt marmorner Grabstätten birgt, und dessen großzügige Bergformen einer biblischen Landschaft gleichen, erfüllte noch mein Sinnen, als ich den Schnellzug nach Pisa bestieg.

In sonnig unermesslicher Weite öffnete sich blitzschnell nach düsteren Tunneln das blaue Meer, blühende Gärten, die herrliche Villen in südlich üppiger Vegetation umrankten, breiteten ihre duftende glühende Pracht aus bis tief in die Lande. Orangenpflanzungen und Olivenhaine bedeckten die wilden Vorgebirge, und die Bahn schien bald nahe den Fluten bis ins Meer zu tauchen, bald in stillen, von Blüten erstickten Tälern schönheitbestreute Wege zu suchen.

Mit donnernder Gewalt brandeten die Wogen des Mittelmeers an dem Gebirge, das in edlen Linien die Riviera die Levante bildet, von göttlichem Atem schienen die schattigen Buchten umweht, und ein Füllhorn ewiger klassischer Schönheit war über diese südliche Welt ausgeschüttet. An Rapallo, dessen Lüfte mich weich umschmeichelten, fuhr ich vorüber nach Sestris aussichtreichen, waldumrauschten Riffen und Felsenhängen, bis ich mich dem Golf von Spezia nahte.

Welch traumhafte Schönheit! Nichts gleicht dem Eindruck der Szenerie, die sich nun dem entzückten Blick öffnet!

Wie frisch gefallener Schnee, wie riesige Felder leuchtender Margeriten glänzt das weiße Gebirge, aus dem der Marmor von Carrara gebrochen wird, uns entgegen. Ein stolzer Rival des griechischen Paros, der seit dem Altertum das Privilegium hat, das beste Material zu liefern für die Denkmalkunst und die Architekturen der ganzen Welt.

Mir selbst war eine interessante Aufgabe zuteil geworden: ich sollte in Carrara den Block zum Denkmal Goethes, das der Kaiser der Stadt Rom schenken wollte, auswählen. So fuhr ich nun eines schönen Tags mit zwei Schülern und einem jungen Freund frühmorgens in die Berge, in denen sich in bedeutender Höhe die berühmten Steinbrüche befinden.

Ein heller Frühlingsmorgen warf seinen Glanz hinüber zu den Gipfeln des Sagro und Bruciano; der Carione, ein kleiner, aber für die Stadt sehr wichtiger Fluß, rauschte unter uns, die wir die trunkenen Augen von der weißen, großartigen Marmorbrücke in das weite, zerwühlte und zerbrochene Gebirge schweifen ließen.

Seit Jahrhunderten von der ersten Entwicklung Carraras als römische Kolonie, die Karl der Große als Lehn den Grafen von Luini schenkte, wurden dort von Tausenden von Arbeitern Steine bis zu eineinhalb Millionen Kilogramm Gewicht gebrochen, ohne daß eine sichtbare Abnahme an dem schönen Gebirge zu sehen wäre.

Im Norden ist es von tiefgrünen üppigen Kastanien, Buchen und Weiden bewachsen, in denen die Marmorbrüche mit ihren riesigen Schutthalden wie flatternde Möwen hängen. Graue Olivenwälder wechseln mit Weinbergen, und fruchtbare Hügel strecken sich bis zur Ebene hinunter. Ein mildes Klima läßt selbst im Winter die Fluren in Blumen blühen und ermöglicht ununterbrochene Arbeit in den Brüchen. Als Pisa erbaut wurde und Nikolo Pisano mit seinen unzähligen Schülern Berge von Marmor für Denkmäler verbrauchte, wurden die bis dahin in Vergessenheit geratenen Brüche wieder belebt.

Ende des siebzehnten Jahrhunderts ließ der Sultan von Fez viele Schiffe mit dem schönsten Marmor beladen, und Carrara erblühte zur volkreichen Stadt.

Sie hat jetzt etwa 24 000 Einwohner und liegt in einem Talkessel der Apuanischen Alpen, rings umgeben von den Gebirgen, die aus solch kostbarem Material bestehen. Die Stadt ist in Kreuzform gebaut, und in ihrem Mittelpunkt, auf der Piazzetta, werden unter freiem Himmel alle Marmorgeschäfte abgewickelt.

Nachmittags vier Uhr, wenn es kühler zu werden anfängt, trifft man die gesamte Geschäftswelt auf dem Platz. Die vom Staub des Gesteins und der zu Mehl zerfahrenen Straßen bedeckten Arbeiter in ihren lebendigen Bewegungen, die dunkeläugigen Frauen und malerisch zerzausten Kinder bieten ein Bild, das, so lieblich es von heiterster Frühlingssonne übergossen ist, dennoch von dem schweren mühseligen Kampf der dortigen Arbeiterexistenzen eindringlich zeugt.

Die Stadt zeichnet sich vorteilhaft durch Reinlichkeit aus und ist außer dem ehrwürdigen Dom durchweg neu und modern. Den Fremdenverkehr schädigt leider die schlechte Fahrverbindung, da von Avenza täglich nur ein Zug mit unbestimmter Fahrzeit abgeht; daher erleiden ebenfalls die Materialsendungen große Verspätungen, und die Künstler aller Länder müssen sich in Geduld fassen, ehe der ersehnte Block sich den kunstreichen Händen fügt.

Das edle Material für fast alle Denkmäler der Alten und Neuen Welt, für die künstlerisch ausgestatteten Monumentalgebäude der Hauptstädte, für die feierlichen Architekturen und Engel der Kirchhöfe und Kirchen, für die liebenswürdigen Werke der Bildnerei, die die Reichen der Erde in ihren Salons und Gärten aufstellen, ist in Carrara gebrochen.

Michelangelos Herberge, in der er wohnte, als er nach Carrara kam, um dort die Blöcke für seine unsterblichen Werke zu suchen, befindet sich noch hier, und als ich vor dreißig Jahren in Rom am Tiber ging, lagen dort noch, tief in das Ufer und den Strom gesunken, Hunderte von mächtigen Marmorfelsen, die die Römer aus Carrara zu ihren Tempelbauten dorthin geschleppt und vergessen hatten. Durch Überschwemmungen des Tiber waren die Riesen mit Schlamm bedeckt, Jahrhunderte rauschten an ihnen vorüber, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Immer höher ging auf unserm Morgenspaziergang der Pfad durch Schutt und Geröll, vorüber an fast unabsehbaren Halden zerkleinerter Steine, bis wir mitten in der grandiosen Gebirgswelt des Marmors, der an 72 Orten gebrochen wird, ankamen.

Ochsengespanne, oft von dreißig dieser herrlichen weißen Tiere mit den weit ausladenden langen Hörnern gezogen, kamen uns entgegen. Zwischen je zweien der Tiere thronte hoch oben auf der Koppel ein schlanker Toskaner Bursch, der sie in den ausgefahrenen Straßen kunstvoll lenkt.

Gewonnen wird das Material durch Absprengen mittels Minen. Elektrische Drahtsägen überziehen wie Spinnennetze die gigantischen Felsstücke und machen es möglich, Blöcke von jeder Größe direkt aus dem Fels herauszusägen. Um diese Blöcke zu Tal hinab zu befördern, werden sie auf grobe Klötze gehoben und von Halde zu Halde an Tauen durch Winden hinuntergelassen. Magere, sehnige Gestalten der Carraresen traten vor die in den schweigenden Schuttmassen dennoch von Rosen umblühten und von Feigen umschatteten Hütten und boten uns Kristalle, die im Marmor gefunden werden, zum Kauf an. Scharen brauner Gesellen, mit Werkzeugen beladen, stiegen mit uns hinauf zur fernen Höhe. Ein schier unentwirrbares Chaos gestürzter Felsen, verworfener Stücke und zur Bearbeitung ausgewählter Steine, pochende Maschinen, Dampfsägen und Niederlagen füllten die Täler. Dunkle Schatten lagen in den Gründen, und fernher leuchteten blaue, dämmernde Bergesfirnen.

Kaum fand der Fuß Halt in dem stundenhoch aufsteigenden Geröll, das Jahrhunderte dort gelagert, und immer  geheimnisvoller gleißten uns aus dem Eingeweide der Berge unendliche Windungen feuchter Labyrinthe entgegen.

Selbst in dieser Einöde hat sich die soziale Frage schon seit Jahrzehnten aufgerollt. Die extremen Ideen zweier Parteien, Arbeiter und Steinbruchbesitzer, stehen sich beständig kämpfend gegenüber, und gerade in jeden Tagen unseres Besuchs fanden wir einzelne Brüche in hellem Aufruhr. Feurige Reden hallten von den einsamen Höhen und in den düstern Abgründen der Brüche. Die Arbeiter der größten Firmen Fabricotti, Binelli, Fredericiani und Taggioni drängten mit lebhaften Gesten an uns heran, ihre Nöte schildernd, die wir leider nur durch einige Liter dunklen Weins zu lindern vermochten.

Auf einem Kamm der majestätischen Bergwelt endlich fanden wir den mächtigen Block, den wir suchten. Aus diesem Koloß hätte ich vier Denkmäler wie das des Goethe meißeln können, er war so hoch wie ein dreistöckiges Haus und fast quadratisch.

Dieser Art Gestein wird Marmor statuaria genannt, man wählt ihn zu allen im Freien aufzustellenden Monumenten, auch die Statuen der Berliner Siegesallee sind aus ihm gefertigt, und der italienische Bildhauer Casal in Berlin hat mein Goethe-Denkmal in diesen Marmor nach meinem Gipsmodell übertragen. Außer diesem gibt es an Marmorsorten Marmor bianco zu Innenräumen, ordinario zu Postamenten und Stufen und paronazzo, Cardiglia usw.

Die großen Bildhauer früherer Jahrhunderte legten nicht gleich hohen Wert auf fehlerlosen Marmor wie unsere Zeit. Selbst die Griechen und Römer erblickten darin, dass ihre Gestalten von dunklen Streifen durchzogen waren, keinen Fehler, denn sonst würden wir an ihren hervorragendsten Schöpfungen diese von uns jetzt als unzulässig bezeichneten Eigenschaften nicht sehen.

Die Gegenwart empfindet es nach meiner Ansicht allzu peinlich, wenn eine Dunkelheit die Form durchzieht; wir Bildhauer sind im Gegenteil entzückt von der malerischen Wirkung, die Flecken und Töne oft verursachen, denn sie rufen zuweilen die Täuschung hervor, als ob die blauen Adern des Blutes unter der Haut pulsierten.

Der von uns ausgewählte Block schien ein besonders schönes Exemplar zu sein, und schon stand vor meinem Geist das Bild unseres größten Dichters in blendender Weiße, von antikem korinthischen Kapitäl herniederschauend.

Schon formte meine Phantasie Mignon, das schauernd zur Jungfrau erblühte Kind, aus ihrem blassen Mund tönten mir, als der Stein unter dem erprobenden Hammer wie eine Glocke klang, die schwermütigen ewigen Verse entgegen:

„Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.

Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin geht unser Weg!

O Vater! Laß uns ziehn.“

Aus diesem in Elfenbeinton schimmernden Gestein wollte ich die edle Priesterin Iphigenie und den von Furien verfolgten Orest, Faust und Mephisto bilden! Träumte mir nicht aus der Ecke des Felsens Iphigeniens herbes, stolzes Frauenantlitz entgegen und grinste nicht hier aus den mit Moosen überzogenen Furchen die diabolische Fratze Mephistos?

Man legte eine Leiter an den Fels, und als ich hinaufstieg und in die Riesenfläche den unsterblichen Namen „Goethe“ primitiv einmeißelte, schien es uns allen, als ob die deutsche Heimat, deutsches lebendiges Wesen nunmehr eingezogen sei in den Kristall, der das Antlitz eines der größten Menschen tragen sollte.

In einer nahe gelegenen Kantine, in der eine Anzahl verwegen ausschauender Steinbrecher eingekehrt war, wurde noch manches schöne und feierliche Wort an diese Stunde geknüpft.

Doch schon nahte die Dämmerung! Es wurde Zeit, über das Joch, entgegen dem Aufstieg, hinunterzueilen.

Fern schimmerten die edlen Brüche Seravezas, wo der kostbare Altissimo, die Perle alles Gesteins, aus dem sämtliche Herrscher des Weißen Saals im Berliner Schloss gemeißelt sind, gebrochen wird. Aus der Tiefe schimmerte die dunkle Fläche des Meers.

Sagenhafte Zeiten, machttrunkene Kaiser und Päpste, Tyrannen und Eroberer sandten ihre goldbeschlagenen Barken und stolzen Segler über das Meer, hier den kostbaren Stoff, aus dem man Ruhm und Unsterblichkeit zimmert, zu finden.

Götter und Sterbliche, Herrscher und Sklaven, Heilige und Verruchte hat die Hand der Künstler aus diesem Stoff gemodelt. Und immer neue Gebilde, Tausende von Monumenten erstehen in den zahlreichen Werkstätten der fleißigen Stadt Carrara.

Wir wanderten durch Arbeitsstätten, die gefüllt waren mit kolossalen Gruppen und Gestalten, die man in Marmor ausführte. Wie kam man sich gering vor mit seinem bescheidenen Werk diesen Riesenunternehmungen und diesem grandiosen Arbeitsfeld gegenüber.

Erst daheim im stillen Atelier, wenn aus dem Urgestein das Gebilde der Phantasie roh angedeutet, dann immer feiner und reiner heraustritt, wenn die durch die Kunst von aller Erdenschwere befreite Psyche des Materials sich dem staunenden Auge enthüllt, wenn um das verschlossen ruhende Schönheitsideal die überflüssige umhüllende Steinschicht fortgemeißelt ist, ruht alle Sehnsucht, und ein Rausch schöpferischer Kraft erfüllt den Bildner.